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Wie pathogene Genmutationen zur Herzinsuffizienz führen – neue Erkenntnisse über Mechanismen

04. August 2022

Die Kardiomyopathie ist keine einheitliche Erkrankung des Herzmuskels – vielmehr führen Gendefekte auf unterschiedliche Weise zur Herzinsuffizienz. Diese neuen Erkenntnisse veröffentlichte jetzt ein internationales Wissenschaftskonsortium in „Science“. Die Forschungsergebnisse basieren auf der ersten umfassenden Einzelzellanalyse von Zellen gesunder und erkrankter Herzen und zeigen, dass die zellulären und molekularen Mechanismen, die bei Menschen mit einer Kardiomyopathie zur Herzinsuffizienz führen, sich je nach Gendefekt unterscheiden. Diese Arbeit wurde von 53 Wissenschaftler:innen aus sechs Ländern in Nordamerika, Europa und Asien erstellt. Gemeinsame Erstautoren sind Dr. Daniel Reichart (Harvard Medical School/inzwischen LMU Klinikum München), Eric Lindberg und Dr. Henrike Maatz (beide MDC Berlin). Als ultimatives Ziel nennen die Forscher die Entwicklung von individualisierten (auf den Patienten zugeschnittenen) Therapien für Herzmuskelerkrankungen, da eine genotypspezifische Behandlung wirksamer und mit weniger Nebenwirkungen assoziiert sei. Die jetzt veröffentlichte Studie werde dabei helfen, diese zielgerichtete Medizin im kardiovaskulären Bereich voranzutreiben.

reichhart Dr. Daniel Reichart (Bild: LMU-Klinikum)

Das Team untersuchte 880.000 einzelne Herzzellen

Die Untersuchung der Genexpressionen von etwa 880.000 Einzelzellen, gewonnen aus 61 erkrankten und 18 gesunden Herzen, war ein komplexes Unterfangen, das ein interdisziplinäres Team erforderte. Beispielsweise wurden die Herzproben vom Brigham and Woman’s Hospital in Boston, USA, der University of Alberta in Kanada, dem Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen und der Ruhr-Universität Bochum in Deutschland sowie dem Imperial College London, Großbritannien, bereitgestellt.

Leitende Senior-Autoren:innen des Projekts sind Christine Seidman, Professorin für Medizin und Genetik an der Harvard Medical School und Kardiologin am Brigham and Women’s Hospital; Jonathan Seidman, Professor für Genetik an der Harvard Medical School; Norbert Hübner, Professor für kardiovaskuläre und metabolische Wissenschaften am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Professor Gavin Oudit, University of Alberta, Kanada; Professor Hendrik Milting, Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen, Ruhr-Universität Bochum, Deutschland; Dr. Matthias Heinig, Helmholtz München, Deutschland; Dr. Michela Noseda vom National Heart and Lung Institute am Imperial College London, UK, und Professor Sarah Teichmann, Wellcome Sanger Institute in Cambridge, UK.

Die dilatative Kardiomyopathie - eine Krankheit mit vielen Ursachen

Die Wissenschaftler:innen konzentrierten sich zunächst auf die dilatative Kardiomyopathie (DCM), die eine der häufigsten Ursachen der Herzinsuffizienz mit nachfolgender Herztransplantationen darstellt. Es handelt sich dabei um eine Erweiterung der linken Herzkammer, der Hauptpumpkammer des Herzens. Die Herzmuskulatur wird bei dieser Erkrankung geschwächt, was ihre Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und Blut zu pumpen, beeinträchtigt und letztendlich zum Herzversagen führen kann. Das Konsortium untersuchte Gewebe von Patient:innen mit verschiedenen genetischen Mutationen, die überproportional häufig zu Kardiomyopathien führen. Diese Mutationen traten in Proteinen mit wichtigen Funktionen im Herzen auf und die nachfolgenden Analysen zeigten, dass diese auf molekularer Ebene unterschiedliche Reaktionen auslösten.

„Wir haben pathogene Genvarianten im Herzgewebe auf Einzelzellebene untersucht, wodurch wir genau abbilden konnten, wie schädliche Mutationen die Herzfunktion einschränken“, sagt Co-Seniorautor Professor Norbert Hübner. „Unseres Wissens nach ist dies die erste derartige Analyse, die in Herzgewebe durchgeführt wird, und wir hoffen, dass dieser Ansatz zur Untersuchung von weiteren genetischen und nicht-genetischen Herzerkrankungen verwendet werden kann.“

Die Wissenschaftler:innen charakterisierten das molekulare Abbild der verschiedenen Mutationen jedes Herzens und verglichen sie sowohl mit gesunden Herzen als auch mit Herzen, bei denen die Ursachen für Dilatation und Dysfunktion unbekannt waren. Die Herzzelltypen und zahlreichen Subtypen wurden jeweils einzeln mithilfe von Einzelzell-Sequenzierungsmethoden analysiert. Kein Labor allein konnte die riesige Menge an anfallenden Daten bewältigen, aber die enge Zusammenarbeit von Spezialisten verschiedener Disziplinen ermöglichte es, aus jedem einzelnen Puzzleteil ein stimmiges Gesamtbild zusammenzusetzen. Diese Studie ist auch Teil der Bemühungen des internationalen Konsortiums „Human Cell Atlas“ (HCA), das darauf abzielt, jeden Zelltyp im menschlichen Körper als Grundlage sowohl für das Verständnis der menschlichen Gesundheit als auch für die Diagnose, Überwachung und Behandlung von Krankheiten zu kartieren.

„Nur diese Sensitivität und hohe molekulare Auflösung erlauben es uns zu sehen, dass Kardiomyopathien nicht einheitlich die gleichen pathologischen Signalwege auslösen“, sagt Co-Senior-Autorin Professorin Christine Seidman. „Vielmehr haben verschiedene Mutationen spezifische Reaktionen hervorgerufen, die zum Herzversagen führen. Diese genotypspezifischen Reaktionen weisen auf therapeutische Möglichkeiten hin, die die Entwicklung zielgerichteter Interventionen beeinflussen können.“ Das Ziel sei die „Identifikation von Biomarkern und Signalwegen, die die Pathogenese der Herzmuskelerkrankung aufklären und dadurch eine personalisierte Medizin ermöglichen“, fügt Professor Gavin Oudit hinzu.

Hyperaktive Bindegewebszellen bestimmen den Umbau der Herzen

„Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass die bei DCM beobachtete Fibrose – also das abnormale Wachstum von Bindegewebe im Herzen – nicht durch eine erhöhte Anzahl von Fibroblasten im Herzen verursacht wird“, sagt Dr. Matthias Heinig. „Die Anzahl dieser Zellen bleibt gleich. Aber die vorhandenen Zellen werden aktiver und produzieren mehr extrazelluläre Matrix, die den Raum zwischen den Bindegewebszellen ausfüllt“, ergänzt Eric Lindberg. Anstelle einer zahlenmäßigen Zunahme fibrotischer Zellen beobachteten die Forscher daher einen Anstieg des Anteils der Zellsubtypen, die auf die Produktion extrazellulärer Matrix spezialisiert sind.

„Besonders ausgeprägt war das Phänomen bei den Herzen von Patienten mit einem mutierten RBM20-Gen“, erklärt Dr. Henrike Maatz. Diese Beobachtung spiegelte sich auch in der Krankengeschichte der Patientinnen und Patienten wider: Im Durchschnitt zeigte sich bei Patienten mit dieser spezifischen Mutation bereits im jüngeren Alter eine Herzschwäche, auch war eine Herztransplantation im Vergleich zu Patienten mit anderen genetischen Formen der DCM früher nötig. Die Einzelzellsequenzierung dieser erkrankten Herzen offenbarte eine ganze Reihe solcher Genotyp-spezifischer Unterschiede.

Die Analyse zeigte auch, dass im Herzen von Menschen mit arrhythmogenen Kardiomyopathien (ACM), also jenen, bei denen gefährliche Herzrhythmusstörungen auftreten können, Muskelzellen zunehmend durch Fett- und Bindegewebszellen ersetzt werden, insbesondere in der rechten Herzkammer. Obwohl diese Form der Kardiomyopathie auch durch eine Mutation in mehreren Genen verursacht werden kann, konzentrierte sich das Team bei der Analyse auf das Gen für das Protein Plakophilin-2, kurz PKP2. Sie verglichen Zellsignalwege von Zellen, die aus der rechten und linken Herzkammer gewonnen wurden. Die Ergebnisse identifizieren die Ursache für die erhöhte Zellfettproduktion im Herzmuskel von Menschen mit dieser Art von Kardiomyopathie.

„Die Messung der präzisen molekularen Signaturen ermöglichte es uns, Kommunikationswege zwischen den einzelnen Zelltypen im Herzen vorherzusagen“, sagt Dr. Michela Noseda. Die verschiedenen genetischen Ursachen von Kardiomyopathien sind mit spezifischen Abweichungen der zellulären Kommunikationsnetzwerke assoziiert worden. „Dies ist ein klarer Beweis für bestimmte Mechanismen, die die Herzmuskelerkrankung antreiben.“

Schließlich nutzten die Wissenschaftler künstliche Intelligenz, um - auf den spezifischen Mustern molekularer Veränderungen basierend - mit hoher Zuverlässigkeit vorherzusagen, welche Mutation vorliegt. Eine zusätzliche Bestätigung dafür, dass die Unterschiede in der Zell- und Genaktivierung mit unterschiedlichen pathogenen Varianten bestimmter Gene assoziiert sind.

Potentielle Biomarker für gezielte Therapien

Das Konsortium hat alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaft online zur Verfügung gestellt. Professor Seidman hofft, dass diese Ressource die Studien anderer Gruppen vorantreibt, um neue Behandlungen der bis heute unheilbaren Herzinsuffizienz zu definieren.

„Wir haben Gewebe von Patienten untersucht, die eine Herztransplantation benötigten; es war ihre letzte Option“, sagt Professor Hendrik Milting. „Wir hoffen, dass zukünftige pharmakologische Behandlungen das Fortschreiten der Krankheit zumindest verlangsamen – und dass die Daten aus unserer Studie dazu beitragen werden.“

Inzwischen hat das Forschungsteam seine nächste Aufgabe benannt. „Die Herzgewebe, die wir untersucht haben, stammen von Menschen im Endstadium dieser Herzmuskelerkrankung“, sagt Dr. Daniel Reichart vom LMU Klinikum München. „Wir sind gespannt, welche Veränderungen wir in früheren Krankheitsstadien entdecken, beispielsweise anhand von Endomyokardbiopsien.“

Titel der Originalarbeit

Reichart D, Lindberg E, Maatz H, Miranda A, Viveiros A, Shvetsov N, Gärtner A, Nadelmann E, ..., Milting H, Noseda M, Oudit G, Heinig M, Seidman J, Hubner N, Seidman
Pathogenic variants damage cell compositions and single cell transcription in cardiomyopathies
Science, DOI: 10.1126/science.abo1984

Ansprechpartner

Dr. Daniel Reichart
Medizinische Klinik und Poliklinik I,
Klinikum der Universität München, LMU München
daniel.reichart@med.uni-muenchen.de

Quelle: LMU Klinikum