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Raus aus dem Teufelskreis

11. Juli 2019

Der Psychiater Nikolaos Koutsouleris entwickelt KI-basierte Verfahren, mit denen sich psychische Erkrankungen früh erkennen lassen.

koutsouleris_nikolaos1 Professor Koutsouleris, Psychiater und Leiter des Bereichs Früherkennung und Frührehabilitation psychischer Erkrankungen am LMUKlinikum.

Das Ausmaß ist gewaltig. Experten gehen davon aus, dass etwa jeder dritte Erwachsene im Laufe seines Lebens an einer psychischen Störung erkrankt. Nicht zuletzt wegen der stärker fordernden Lebensbedingungen ist die Tendenz in westlichen Industrienationen steigend. Vor allem Depressionen nehmen zu. Rund 30 Prozent der Erkrankungen verlaufen chronisch. Affektive und psychotische Störungen verursachen europaweit jährliche Kosten von 207 Milliarden Euro, etwa ebenso viel wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ganz abgesehen von dem Leiden der Millionen Betroffenen: „Das sind enorme Kosten für die Gesellschaft“, sagt Nikolaos Koutsouleris, Psychiater und Leiter des Bereichs Früherkennung und Frührehabilitation psychischer Erkrankungen am LMUKlinikum.

Das Problem ist umso größer, da nur 30 bis 50 Prozent der psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlungen in der Psychiatrie effektiv sind. Trotz intensiver Forschungsanstrengungen hat sich die Erfolgsquote nicht wirklich verbessert. „Entscheidend sind die frühe Diagnostik und die Prognostik“, sagt Koutsouleris. Eine rechtzeitige Therapie kann betroffene Menschen vor einer langwierigen, schweren Erkrankung bewahren. „Wenn man jahrelang auf Hilfe warten muss und die Krankheit schon weit vorangeschritten ist, helfen die besten Medikamente und Therapien nichts mehr.“

Die Idee

Daher gründete Koutsouleris vor sechs Jahren an der LMU-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie die Sektion für Neurodiagnostische Verfahren, 30 Forscher arbeiten hier inzwischen: Mediziner, Psychologen, Informatiker. Parallel initiierte er mit dem internationalen, EU-geförderten Projekt PRONIA die Forschung an neuartigen Prognose-Tools zur Früherkennung psychotischer Erkrankungen. Es basiert auf selbstlernenden Algorithmen, die aus großen und komplexen Datensätzen charakteristische Muster einer speziellen psychischen Erkrankung herausfiltern sollen. Zum Trainieren lassen sich dabei nicht nur klinische und neuropsychologische Informationen, sondern auch bildgebende und genetische Daten verwenden. Psychische Erkrankungen seien sehr komplex, sagt Koutsouleris. „Oft mischen sich verschiedene Krankheitsbilder bei einem Patienten.“ Die schlaue Software soll den Forschern helfen, die Psychose-Risiken deutlich früher zu diagnostizieren, und die Diagnose selbst besser zu machen. Ziel sei es, so Koutsouleris, die Behandlung gezielt zu personalisieren. „Bislang sind wir in der Psychiatrie oft in einer Art Blindflug, weil wir nicht wissen, welches Medikament bei wem am besten passt“, sagt der Psychiater. „Die Algorithmen können uns womöglich helfen, unnötige Therapien zu vermeiden. Psychopharmaka haben ja oft gravierende Nebenwirkungen. Auf der anderen Seite kann den Patienten gezielt und individuell geholfen werden, die ein besonders hohes Risiko für einen schlechten Erkrankungsverlauf haben.“

Selbstlernende Systeme, selbst entwickelt

Künstliche Intelligenz und selbstlernende Software sind mittlerweile ein großes Thema in der Medizin. Eher beiläufig erzählt der Psychiater, er habe schon vor Jahren begonnen, selbst die vektorbasierten Algorithmen zu entwickeln, ungewöhnlich in diesem hochspezialisierten Segment der künstlichen Intelligenz. „Mich interessiert das Thema schon lange“, sagt er. „Ich habe meine ersten Algorithmen vor mehr als zehn Jahren geschrieben.“ Den Begriff KI mag er nicht, er spricht lieber über „Muster-Erkennungs-Maschinen“. NeuroMiner heißt die von ihm entwickelte Algorithmus-Bibliothek, die auf frei verfügbarer Software basiert und darauf optimiert ist, Vorhersagen zu machen, wie wahrscheinlich in einem bestimmten Zeitraum eine Erkrankung bei einem Patienten auftritt und wie hoch die Wahrscheinlichkeit des individuellen Therapieansprechens ist. Es ist also ein sehr kliniknaher Ansatz, der darauf abzielt, nicht mehr nur Unterschiede zwischen Patientengruppen etwa mit Schizophrenien oder Depressionen zu beschreiben, sondern künftig auch individuelle Krankheitsverläufe und –ergebnisse vorherzusagen.

Immer noch krankt die Vorhersagekraft der Algorithmen in bestimmten Bereichen der Medizin daran, dass zu wenige hochwertige Daten über spezifische Krankheiten vorliegen oder, wie bei psychiatrischen Krankheiten, die Krankheitsbilder nicht immer klar zu definieren sind. Um die Algorithmen zu verbessern, sammeln die Forscher im Rahmen von PRONIA an inzwischen zehn Kliniken in Europa und Australien möglichst detaillierte Informationen zu Psychosen und ihren ersten Anzeichen. Koutsouleris leitet das internationale Projekt.

Viel ärztliches Wissen in einer Gleichung

Die Studienteilnehmer werden zwei Tage lang detailliert untersucht, die Ärzte führen ausführliche Gespräche mit ihnen über ihre Lebenssituation und die Vorgeschichte, sie füllen dabei standardisierte Fragebögen aus, deren Ergebnisse direkt in das Vorhersagetool einfließen. „Ärztliches Wissen muss in eine Gleichung gepackt werden“, sagt Koutsouleris zum Vorgehen. Die Probanden machen zudem neuropsychologische Tests, lassen ihr Gehirn im Kernspintomographen scannen und ihr Blut auf genetische Marker hin untersuchen, die ein mögliches Risiko für Psychosen angeben.

Bislang haben 2000 Patienten teilgenommen, ein Drittel sind gesunde Menschen. Rund drei Viertel kommen regelmäßig alle drei Monate, sodass sich auch der Verlauf und mögliche Veränderungen gut dokumentieren lassen. Mit zunehmender Zahl der Teilnehmer soll das System sich immer weiter verbessern. Bewusst trainierten die Forscher ihre Algorithmen zunächst nur mit klinischen Daten. Im Ergebnis erreichten sie damit eine Vorhersagekraft von immerhin 70 bis 80 Prozent, sie war bei Psychosen insgesamt besser als bei Depressionen. „Wir könnten ohne weitere Eingriffe in den Lernprozess sogar auf bis zu 90 Prozent Genauigkeit kommen, aber wir haben das Design der Algorithmen an den Klinikalltag angepasst“, sagt Koutsouleris. „Die Diagnostik- und Prognose-Tools sollen Ärzten ohne aufwendige Datenerhebung helfen, auch etwa Hausärzten, die wenig erfahren sind mit psychiatrischen Erkrankungen.“

Dass die Diagnose bei Depressionen weniger genau war als bei Schizophrenien, liege vermutlich daran, dass „Depressionen heterogener“ seien, meint der Psychiater. Depressionen haben höchst unterschiedliche Auslöser: Liebeskummer kann genauso dazugehören wie Cannabiskonsum, Stress oder eine beginnende Psychose. Die Grenzen zwischen Depression und psychotischen Erkrankungen seien vor allem in jungen Jahren nicht so klar.

Bei weiteren Studien zeigten sich die Möglichkeiten des modularen Lernsystems. Als die Forscher die Algorithmen zusätzlich mithilfe von Biomarkern aus strukturellen Kernspinaufnahmen trainierten, verbesserte sich die Vorhersagegenauigkeit bei Depressionen um das 10-fache, bei Schizophrenien immerhin um den Faktor 2 bei jenen Patienten, deren Prognose basierend auf klinischen Daten ungenau war. Als Biomarker für diese Psychosen konnten die Forscher spezifische Veränderungen im Volumen der Großhirnrinde identifizieren, auch Veränderungen im Kleinhirn und den Basalganglien. „Bestimmte Teilsysteme des Gehirns, die die Denkabläufe koordinieren und kontrollieren sowie unser Empathievermögen und Belohnungsverhalten steuern, sind für die Vorhersage wichtig“, sagt Koutsouleris.

Dass die mittlerweile zehn Zentren in Europa und Australien unterschiedliche MRTGeräte verwenden und auch die untersuchten Personen aus verschiedenen Regionen der Welt stammen, sieht Koutsouleris als Vorteil an. „So ist das System von Anfang an robuster“, sagt der Psychiater. „Die Erkrankung wird aufgrund der vielen lokalen Facetten in ihren Ausprägungen deutlich besser erfasst.“ Zudem bringen sich bei PRONIA Forscher aus Ländern mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen ein, so werden spezifische Probleme vor Ort besser erfasst. Nur so bekäme man einen „Fingerprint der Erkrankung“ mit all ihren lokalen und individuellen Facetten. Das sei ein riesiger Vorteil gegenüber Ansätzen, die lokal begrenzt sind, sagt Koutsouleris.

Ausblick

Künftig wollen die Forscher verstärkt auch genetische Daten für ihre Algorithmen nutzen. Dabei geht es um Informationen über sogenannte SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms). Von solchen individuell verteilten Abweichungen in einzelnen DNA-Bausteinen gibt es eine ganze Reihe, die bekanntermaßen Auswirkungen auf Gehirnstrukturen haben beziehungsweise in Bezug zu psychiatrischen Erkrankungen stehen. Gleichzeitig wollen die Wissenschaftler auch erforschen, warum bestimmte Arzneimittel bei manchen Personen wirken und bei anderen nicht, und so unerwünschte Nebenwirkungen vermeiden. Man will in internationalen Kooperationen künftig auch Untergruppen von Patienten untersuchen, um ein genaueres Bild bestimmter Erkrankungen wie Schizophrenien oder Depressionen zu bekommen. „Das Einbeziehen der Genetik wird die Vorhersagekraft verbessern“, sagt Koutsouleris. Aber eines stellt der Psychiater klar: „Egal wie gut die Algorithmen sind, sie werden in der Klinik nie den erfahrenen Arzt ersetzen.“

Quelle: LMU Einsichten