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Überaktive Blase

„Das wurde immer belächelt“, sagt Privat-Dozent Dr. Christian Gratzke von der Urologischen Klinik des Klinikums der Universität München. Schon lange hatten Patienten mit Multipler Sklerose davon berichtet, dass ihre überaktive Blase sich besserte, nachdem sie einen Cannabis-Joint geraucht hatten. Dann folgte eine groß angelegte klinische Studie in Großbritannien mit über 600 MS-Patienten, die den Cannabis-Wirkstoff THC verabreicht bekamen – worauf sich die Blasen-Symptome deutlich reduzierten. So sank die Anzahl der so genannten Inkontinenz-Episoden, bei denen die Probanden ungewollt Urin verlieren, deutlich. Und jetzt hat ein Team um Dr. Gratzke in einer tierexperimentellen Studie nachgewiesen: Auch ein synthetisches Cannaboid könnte die gleiche Wirkung entfalten – und zwar ohne die störenden und gesellschaftlich umstrittenen Wirkungen der Droge auf das Gehirn.

Das Problem der Inkontinenz ist nicht auf MS-Patienten beschränkt. Rund elf Prozent der Männer – oft nach gutartigem Wachstum der Prostata im Alter – und 13 Prozent der Frauen sind von der überaktiven Blase betroffen. Die Symptome „schränken die Lebensqualität teilweise enorm ein, bis hin zu Depressionen“, wie Dr. Gratzke sagt. Zwar gibt es Medikamente, die die glatte Muskulatur der Harnblase über „Muskarin-Rezeptoren“ entspannen. Allerdings funktionieren die Präparate nur vorübergehend und entwickeln teilweise erhebliche Nebenwirkungen, etwa Mundtrockenheit oder Verwirrungszustände.

"Betroffene entwickeln mitunter sogar Depressionen"

Cannabinoide Substanzen könnten eine therapeutische Alternative sein. Doch der Einsatz von Hanf und seinen Inhaltsstoffen in der Medizin ist gesellschaftspolitisch umstritten. Denn die Droge wirkt langfristig gesehen negativ auf Kognition, Gedächtnis, Psyche und Bewusstsein vieler Menschen. Die psychischen Phänomene werden vor allem ausgelöst, indem die cannabinoiden Inhaltsstoffe an die CB1-Rezeptoren der Nervenzellen im Gehirn binden.

Im restlichen Körper koppeln Canabinoide aber auch an die chemisch leicht unterschiedlichen CB2-Rezeptoren an. Diese CB2-Rezeptoren befinden sich nicht nur auf Immunzellen, wie man dachte, sondern auch im Blasengewebe von Ratte, Affe und Mensch, wie der Münchner Urologe herausgefunden hat – und zwar vor allem auf „sensiblen Nervenendigungen, die Informationen von der Blase zum Gehirn weiterleiten.“ Das passt wunderbar zur These, wonach bei der überaktiven Blase gerade diese Nervenendigungen eine große Rolle spielen.

In einer 2010 veröffentlichten Folgestudie hat das Münchner Urologen-Team Ratten ein synthetisch hergestelltes Cannabinoid verabreicht, das fast ausschließlich an CB2-Rezeptoren anbindet und zudem nicht ins Gehirn eindringen kann, wo die psychischen Wirkungen von Cannabinoiden ausgelöst werden. Ergebnis, analog zu den Ergebnissen bei MS-Patienten: Die Häufigkeit des Wasserlassens wurde erheblich vermindert. „Auch die Kraft, mit der sich die Blase zusammenzieht, hat sich reduziert“, sagt Dr. Gratzke. Diese Resultate haben sich nun auch bei Ratten bestätigt, die unter einer künstlich induzierten überaktiven Blase litten. Jetzt wollen die Münchner Mediziner das System noch genauer erforschen. Ultimatives Ziel: eine klinische Studie mit Patienten. Das, so Dr. Gratzke, „ist Ziel unserer Arbeit.“

Quelle: Jahresbericht 2010 (Text und Bildnachweis)