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Mit Skalpell und Knochenfräse: Studium im Neuroanatomy Lab

09.09.2024

Ein besonderes Anatomie-Angebot soll Studierenden die Welt der Neurochirurgie näherbringen.

Über eine große Leinwand wurde die Arbeit an der Körperspende in den Hörsaal der Anatomischen Anstalt übertragen. | © © LMU/Ian Perdomo

An einem Freitagmorgen im Juli sitzen rund 100 Medizinstudierende in den Rängen des Großen Hörsaals der Anatomischen Anstalt der LMU und schauen auf vier Oberärzte herab, die in voller Montur vor einem Körperspender stehen. Die Ärzte sind heute extra freigestellt, weil sie den Studierenden im Detail zeigen wollen, wie man an der Wirbelsäule operiert. Denn um die geht es heute: Das „Neuroanatomy Lab Teil II: Spine“ soll Studierenden die Welt der Neurochirurgie näherbringen, soll ihnen dabei helfen, herauszufinden, ob die Neurochirurgie überhaupt etwas für sie wäre. Es soll sie auf die Klinik vorbereiten und ihnen zeigen, wie sich das anfühlt, nicht nur, wie es theoretisch gehen könnte.

Die Live-OP und die spätere Arbeit am Körperspender sind feste und wichtige Bestandteile der Neuroanatomy Labs. Das war schon bei Teil I: Cranium der Fall, als es um den Schädel ging. Bandscheibenvorfälle, Tumore, Knochenbrüche – hier geht es nicht nur um Theorie, sondern auch die Praxis steht im Fokus. Und die lasse sich am besten mit Körperspendern simulieren, sagt Robert Klövekorn, der Gründer des Neuroanatomy Labs. „Ein Modell kann noch so gut designt und gebaut sein, es wird nie genau so aussehen, wie das bei einem echten Menschen im Operationssaal der Fall ist“, sagt Klövekorn. Operieren lebt viel vom haptischen Feedback, vom Gefühl dafür, wie weit man gehen darf und soll. Wie stark muss ich eine Schraube in den Knochen drehen, damit sie festsitzt? Wann ist Schluss, damit ich keinen Schaden anrichte? Für die Antworten auf diese Fragen sind Körperspender ziemlich wertvoll. Denn später in der Ausbildung zum Assistenzarzt wird es ernst. „Bei lebenden Patienten hat man eine ganz andere Verantwortung“, sagt Klövekorn.

Es kann viel kaputtgehen

Die Oberärzte der neurochirurgischen Stationen des LMU Klinikums und des Klinikums rechts der Isar tasten jetzt die Dornfortsätze des Körperspenders ab, schneiden die Haut an der Mittellinie auf, lösen die Muskulatur von der Wirbelsäule ab, fräsen sich durch den Knochen in die Tiefe – ganz vorsichtig, um die Dura, also die Hülle des Rückenmarks, nicht zu verletzen – und stanzen sich weiter vor, immer weiter, bis zu den Bandscheiben. Über ihnen schwebt eine Kamera; per Beamer wird jedes Detail auf die große Leinwand im Vorlesungssaal projiziert. „Es ist crazy, wenn man sich vor Augen führt, was man alles kaputt machen kann“, sagt Dennis, Student im 8. Semester. „Wenn man sich nur um einen Millimeter verfräst, ist die Person querschnittsgelähmt.“

Dennis ist mit seinen Kommilitonen Franz und Eloy zum ersten Mal beim Neuroanatomy Lab dabei. Sie sind im 7. und 8. Semester, den Präparierkurs haben sie also schon eine Weile hinter sich, aber die Chirurgie kommt ihnen manchmal etwas zu kurz im Studium, deswegen sind sie heute hier. Genau am richtigen Platz, findet Klövekorn, der alleinige Organisator der Veranstaltungsreihe. Er studiert im 11. Semester Medizin an der LMU München und wollte mit seinem Neuroanatomy Lab eine kleine Lücke im System schließen. Das Curriculum im Medizinstudium ist dicht bepackt und wird jedes Jahr größer, der medizinische Fortschritt wächst, der Studieninhalt auch; es fallen selten Sachen weg, eher kommen welche dazu.

Zeit fürs Gehirn, die Wirbelsäule, die Neurochirurgie

Alle Studierenden müssen einmal allgemein ausgebildet werden, daran lässt sich schwer etwas ändern. „Für die Neurochirurgie hat man dann einfach nur eine begrenzte Anzahl an Kursstunden zur Verfügung. Die Lehre muss dann zu anderen Fächern weitergehen – die Herzchirurgie, die HNO, die Dermatologie, die wollen auch alle behandelt werden“, sagt Klövekorn. Mit dem Neuroanatomy Lab will er Zeit fürs Gehirn, die Wirbelsäule, die Neurochirurgie schaffen. Die Enthusiasten sollen hier genauso auf ihre Kosten kommen wie die Zweifelnden: „Für mich war die fachliche Liebe zur Neurochirurgie sehr schnell klar, ich hatte da Glück, aber nicht alle tun sich mit der Entscheidungsfindung so leicht“, sagt er.

Im Hörsaal kommt jetzt langsam Bewegung in die Studierenden – sie wissen, dass die OP-Stunde sich dem Ende nähert, dass sie jetzt gleich selbst ran dürfen, die ersten Kittel landen schon ungeduldig auf den Tischen – fünf Stationen liegen vor ihnen.

Alles Übungssache

Der Präpariersaal der Anatomie ist ein Raum mit großer Glaskuppel, viel Licht und einem beständigen Surren der Klimaanlage. Hier lernen die Medizinstudierenden in ihren ersten beiden Semestern zum ersten Mal den menschlichen Körper von innen kennen. Heute steht hier PD Dr. Nicole Lange, Oberärztin in der Neurochirurgie des Klinikums rechts der Isar. Hinter ihr liegt ein weiterer Körperspender bereit: „vorpräpariert für uns“, sagt sie. Bedeutet: Das Rückenmark mit seinen Nervenenden ist schon freigelegt. Die Studierenden fassen das Rückenmark an, testen den Halt der Nervenstränge, machen sich vertraut mit dem, was später vielleicht mal zu ihrem Alltag gehören wird. Dozentin Lange versucht, ihnen die Angst zu nehmen. „Es ist alles Übungssache, ihr könnt das alles lernen“, sagt sie und zeigt die verschiedenen OP-Instrumente: die Stanze, mit deren Schuh man sich gut unter den Knochen fädeln kann; die Dura-Pinzette mit extra feiner Spitze; das Raspatorium, mit dem man Muskeln vom Knochen abschaben kann; und der Knochenfräser – ein Instrument zur Freilegung des knöchernen Gerüsts der Wirbelsäule. Lange beantwortet Fragen, erklärt, wer in der Klinik was operieren darf, woran man merkt, wenn man die Dura beschädigt, und wie sie in der Neurochirurgie gelandet ist. „Perfekt, ich komme für mein PJ zu euch“, sagt eine Studentin freudig.

Die Studierenden erproben die erlernten Kenntnisse an sogenannten Realists RealSpine-Modellen.

© LMU/Ian Perdomo

Neurologischer Status und Bildgebung sind wichtig

Im Raum nebenan recken derweil rund zehn Studierende ihre Köpfe in die Luft, stehen auf Zehenspitzen und versuchen, einen Blick auf Dr. Raimund Trabolds Hände zu erhaschen. Trabold ist Oberarzt am LMU Klinikum und hat gerade noch an zwei Modellen erklärt, wie man Cages, Pins und Platten, also Implantate und Pedikelschrauben, in die Halswirbel- und Lendenwirbelsäule dreht. Jetzt steht er vor dem Körperspender, der gerade noch im Hörsaal präpariert wurde, und wartet auf sein Instrumentarium. Für das ist heute Sven Frenzel von Signus, einem Medizintechnikunternehmen, zuständig. Während Trabold noch erklärt, geht Frenzel zielstrebig auf eine Studentin zu, sagt: „Sie sind prädestiniert dafür“, und drückt ihr zwei Gerätschaften in die Hand. „Das braucht ihr zuerst“, sagt er und zeigt auf den Gewindeschneider. Damit dürfen die Studierenden jetzt ein Loch in den Knochen bohren. „Drücken, drücken, drücken“, feuert Dozent Trabold an, dann ist das Loch auch schon bereit für die Schraube, die jetzt hereingedreht wird. Zum Schluss wird sie noch getestet, „Kopf wackelt, Rest ist stabil“, vermeldet eine Studentin. Passt, der Kopf soll wackeln, damit man später noch anpassen kann, meint Trabold. Wer nicht am Körperspender steht, übt das Eindrehen der Schrauben an Modellen; es quietscht ein bisschen, scheint aber zu funktionieren.

Klövekorn geht währenddessen von Station zu Station, schaut, ob alles passt. „Man operiert natürlich nicht gleich, nur weil jemand Rückenschmerzen hat, vorher kommt die Untersuchung, deswegen sind der neurologische Status und die Bildgebung so wichtig“, sagt er. Für die Bildgebung ist heute PD Dr. Kaywan Aftahy vom Klinikum rechts der Isar zuständig. Anhand von Fallbeispielen erklärt er den Studierenden die Interpretation sowie die Vor- und Nachteile von verschiedenen spinalen bildgebenden Verfahren: CT, MRT, Ultraschall, CT-Myelographie und ganz klassisch – das Röntgen: „Man kann es überall machen, aber wirklich sehen tut man nichts“, sagt er und grinst.

Arbeit an Modellen

Ein paar Meter weiter zieht ein Student gerade seine Schuhe aus. Er hat sich als Freiwilliger für die neurologische Untersuchung bei Christopher Hemingway, Assistenzarzt am Institut für klinische Neuroimmunologie am LMU Klinikum, gemeldet. Hemingway holt aus seinem Notizbuch einen Zahnstocher, zerbricht ihn und zeigt, wie man den Patienten per Spitz-/Stumpf-Diskrimination untersucht, klopft ihn mit dem Reflexhammer ab und erklärt, wie man die MRC-Kraftgrade testet. Eine Studentin zeigt sich sofort inspiriert und versucht mit ihrem Handy, einen Reflex bei ihrer Kommilitonin auszulösen. „Das kann man ja nicht anschauen“, sagt Hemingway lachend, reicht ihr den Reflexhammer und erklärt: „Es ist eher eine Pendelbewegung, die du beim Abklopfen machen musst.“

Die Studierenden mussten gegenseitig üben, die Reflexe zu testen.

Die Studierenden mussten gegenseitig üben, die Reflexe zu testen. | © LMU/Ian Perdomo

Eine halbe Stunde vor Schluss wartet eine Studentin gerade auf ihre letzte Station mit PD Dr. Tobias Greve vom LMU Klinikum. „Es ist so selten, dass sich Oberärzte mal Zeit für einen nehmen. Und hier sind es gleich vier davon“, sagt sie. Sie beantworten Fragen zum PJ, zu ihrer Laufbahn, bieten Hilfe bei den Famulaturen an und versuchen zu beruhigen. „Am Ende ist es einfach nur ein Handwerk, und wenn es einem Spaß macht, macht es einem Spaß. Wenn nicht, kann man auch das Fach wechseln, das ist keine Schande“, sagt Greve. Der Oberarzt leitet die Studierenden an den Realists RealSpine-Modellen an. Hier können sie die OP-Schritte selbst ausprobieren – inklusive künstlicher Haut, künstlichem Blut, künstlichem Knochen und allem, was dazu gehört. „Mittlerweile ist es ein richtiges Schlachtfeld“, sagt Greve, die Arbeit der anderen Gruppen hat ihre Spuren hinterlassen. Aber es gibt noch genug zu tun. Greve verteilt OP-Instrumentarium, gibt Anweisungen: „Hier müsst ihr den Muskel von der Wirbelsäule abschaben“, „Nein, das ist noch nicht die Bandscheibe“, „Da gehört der Knochen weggestanzt“, „Hier könnt ihr noch die Gelenke wegmeißeln.“ Eine Studentin nimmt beherzt einen Hammer in die Hand – „Aber pass auf mit der Dura“, ruft Greve noch in die Schläge hinein. „Solche Veranstaltungen sind wichtig“, sagt Greve, „nur so kann man junge Leute für das Fach begeistern.“

Robert Klövekorn hat gerade noch die letzten Dozierenden verabschiedet und Danksagungen im Vorlesungssaal erteilt: an seine Freundin Clara Clemens, die ihn beim Ablauf vor Ort unterstützt hat, an Prof. Dr. Jens Waschke und Prof. Dr. Anja Horn-Bochtler von der Anatomischen Anstalt, an die Studierenden und Dozierenden, an das Studiendekanat und die Fachschaft der LMU, die das Lab finanziert haben. Siebeneinhalb Stunden Ausflug in die Tiefen der Neurochirurgie sind jetzt vorbei, und Klövekorn sitzt in einem Lehrraum der Anatomie und möchte eigentlich noch aufräumen. Aber die Zeit für ein Fazit nimmt er sich noch.

Eine der aufwendigsten Sachen, die ich bisher gemacht habe

Schließlich war das seine Veranstaltung. Seit Oktober letzten Jahres sitzt er an der Organisation. Er allein hat das Konzept entwickelt, mit der Anatomie abgesprochen, was überhaupt möglich wäre, welche Körperspender zur Verfügung stehen. Hat sich überlegt, welche Dozierenden und Kliniken er anfragt, dutzende Mails geschrieben, sogar einen kurzen Trailer hat er erstellt. Wie viele Stunden er für dieses Projekt investiert hat, weiß er nicht, er hat es einfach gemacht, während des Staatsexamens, während seines PJs am Universitätsspital Zürich. Nach zehn, zwölf Stunden Arbeit hieß der Feierabend oft genug: Mails schreiben, Details klären, weiter planen. Einen Tag vor der Veranstaltung war er noch im Dienst, dann hat er sich Urlaub genommen, ist aus der Schweiz nach München gefahren und hat bis in die Nacht hinein noch die Stationen in der Anatomie aufgebaut. Ganz schön viel, oder?

„Abgesehen von der Doktorarbeit ist das eine der aufwendigsten Sachen, die ich bisher gemacht habe“, sagt Klövekorn. Aber vorhin, kurz vor Schluss, kam noch eine Studentin zu ihm, die schnell zum Zug musste, sagt er. Sie hat ihm erzählt, dass sie gerade ihre zweite Famulatur in der Neurochirurgie macht, hat sich bei ihm für die Veranstaltung bedankt und gesagt: „Ich habe heute mehr mitgenommen als in acht Wochen Famulatur.“ Und dafür macht Klövekorn das, dafür lohnen sich die Anstrengungen dann. „Den Studierenden diese Erfahrung für ihre spätere Entscheidung so früh auf den Weg geben zu können, ist etwas Tolles“, sagt er. Dafür will er weitermachen. Aber jetzt macht er erstmal sein PJ fertig, dann kommt das dritte Staatsexamen und demnächst auch die dritte Auflage seines Neuroanatomy Labs – vielleicht ist er dann sogar schon frisch approbierter Arzt. „Ich werde sicherlich keine Ruhe geben“, sagt er. Lehre, das ist sein Ding, Neurochirurgie auch, später will er an einem Uniklinikum arbeiten. Und das Neuroanatomy Lab, das soll weitergehen. Entweder gibt es eine Wiederholung von Teil I: Cranium oder aber es kommt etwas ganz Neues, die Neurochirurgie hätte schon noch einiges zu bieten, meint er. So ganz verraten will Klövekorn seine Ideen aber noch nicht. Er überlegt kurz, grinst und sagt dann: „Die Ideen müssen erst noch in meinen zerebralen Windungen reifen.“